P A N D E M I E (DEUTSCH)

VORWORT

Es war wohl Mitte Dezember 2019, als ich einen WeChat-Anruf von Liu Chuan Feng, meinem chinesischen Sohn erhielt. Es klang sehr dringend: „Bàba, irgendwas passiert derzeit in Wuhan und es sieht sehr ähnlich aus wie das, was wir in Hong Kong im Frühjahr 2003 erlebt haben. Kannst Du Dich daran erinnern?” Wie kann ich mich nicht daran erinnern, dachte ich. Schüttelfrost durchdrang meinen ganzen Körper und lähmte mich über einen längeren Augenblick!

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Ich heiße Friedrich, Freiherr von Pawlowska und bin Fotograf, na ja, eher Hobbyfotograf der Naturfotographie, d.h. ich versuche, die majestätischen Landschaften unseres Planeten zu erfassen; die Risse der patagonischen Gletscher; eine Mondfinsternis auf der Insel Brač, als sie gerade aus dem adriatischen Meer auftaucht; die Nachmittagsschatten der Gebirgszüge und Gipfel des Himalaya; das tiefe Grün des Amazonas Urwaldes; die imposanten Vulkane Amerikas; die unterschiedlichen Farben der Wüsten Taklamakan, Sahara oder Atacama. Aber es faszinieren mich ebenso die üppige und abwechslungsreiche Flora und Fauna, so farbig und farbenfreudig, manchmal versteckt oder nicht ganz evident, oder evident und nicht wirklich sichtbar, so wie es eine winzige Kaktusblume im Jardin Majorelle sein könnte, oder das Moos auf den toten Bäumen im Schwarzwald oder ein getarnter Leopard auf den Ästen einer Acacia Erioloba im Okavango Delta ….

Aber den richtigen Moment einer hitzigen Diskussion zwischen einem Käufer und Verkäufer im Bazar von Marrakech zu erfassen, das unschuldige Lächeln eines neugierigen Kindes im tadschikischen Dorf Bulunkul, den tiefen Blick eines heiligen Mannes am Ufer des Ganges oder den in sich gekehrten Blick einer verliebten Frau, das eher an ein Gemälde von Botticelli erinnert … das macht die Fotografie, wie ein Portrait von Francisco de Goya, zu einem überlegenen Medium. Einem Medium, das Emotionen und Botschaften augenblicklich vermittelt.

In meinem parallelen Leben bin ich Ingenieur und Kaufmann. Wenn ich gerade keine Momente mit meiner Kamera erfasse, dann berate ich junge und weniger junge Führungskräfte in der Führung und Entwicklung ihrer Organisationen oder Projekte oder unterstütze sie in ihrer persönlichen und professionellen Entwicklung. Nicht selten widme ich ihnen Zeit, um sie in anderen Bereichen ihrer nicht beruflichen Lebensbereiche zu beraten, indem ich ihnen einfach nur zuhöre. In diesen Momenten höre ich selber die Stimme meines Religions- und Philosophielehrers, als ich im Begriff war das Jesuiteninternat zu verlassen, welches ich 10 Jahre lang bis zum Abitur besucht hatte: „Friedrich, es ist sehr bedauerlich, dass Du das Angebot nicht angenommen hast, Dein Studium an unserem Priesterseminar fortzusetzen und das Noviziat anzutreten. Du bringst alle Eigenschaften eines Scholastikers der Gesellschaft Jesu mit. Aber wir respektieren Deine Entscheidung und wünschen Dir bei Deinem Ingenieursstudium viel Erfolg. Wir wissen, dass Du tief in Deinem Herzen diese Eigenschaften mit Dir trägst, unabhängig des Berufs, welchen Du später ausüben wirst.“ Die Eigenschaften, wie sie mein Lehrer nannte, haben mich zu einem Beobachter von Situationen gemacht. Einem Beobachter, der nicht zwischen dem Guten und dem Bösen richtet, sondern eher zwischen dem Vernünftigen und Nicht-Vernünftigen, dem Wahrscheinlichen und Unwahrscheinlichen, dem Gerechten und Ungerechten …  Beobachtungen, die aber nicht immer willkommen sind. „Der Überbringer der schlechten Nachricht wird in der Regel geköpft“. Meine Ururgroßmutter Angelika, Gräfin von Pawlowska, Matriarchin und Großgrundbesitzerin der oberschlesischen Grafschaft Pawlowska in der Nähe der Stadt Katowice, hatte darauf bestanden, dass alle männlichen Erstgeborenen der Familie eine jesuitische Internatsausbildung zu durchlaufen hatten und im besten Fall durch ein Gelübde eine kirchliche Karriere antreten sollten.

Preußische Werte und die Internatsausbildung während meiner Jugend haben mich während meiner akademischen Ausbildung in Europa und den Vereinigten Staaten, sowie später in meiner Rolle als Berater oder Unternehmer auf allen Kontinenten, einschließlich in China, begleitet.

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Zhou Zuofen war ein sehr begehrter Koch in Shenzhen, denn er wusste die traditionellen kantonesischen Gerichte zuzubereiten. Um das geschätzte chuān shān jiǎ zu kochen, musste Zuofen zum lokalen Markt gehen. Dort wurden allerlei lebendige Tiere verkauft, viele davon Wildtiere, alle übereinander und nebeneinander in engen Holzkisten gepfercht. Der Geruch war nicht zu ertragen. Zuofen wusste aber ganz genau, wo er die besten Schuppentiere für sein erlesenes Gericht finden würde. Dort waren sie, am Ende einer Sackgasse, um den Geruch vom restlichen Markt fern zu halten. Der Markt war riesig, ländliche Händler aus der gesamten Region priesen ihre Lebendware an, egal ob es sich um Fledermäuse, Enten, Tauben, Schweine, Schlangen oder importierte Affen handeln sollte. Alle würden sich in der einen oder anderen Form in einem der vielen kantonesischen Gerichte wiederfinden. Zuofen bereitete auch manchmal Affenhirn zu, aber nur auf besonderen Wunsch, versteckt und nur für ihm bekannte Kunden. Die Gesetze der Zubereitung lebender Tiere verboten seit einigen Jahren bestimmte Praktiken. Um yan wo zuzubereiten, musste Zuofen zu einem anderen Händler gehen, der die delikaten und extrem teuren Schwalbennester hatte. Hem ga tsan! Verflucht sei seine Familie! Der Preis ist auf fast 5.000 ¥ pro Unze gestiegen, nicht weit vom Goldpreis entfernt…  Aber die Ware war von außerordentlicher Qualität und nicht wie der Müll, den man Touristen und ausländischen Geschäftsleuten in den neuen Fünf-Sterne Hotels anbot. Er hatte keine Option. Nur hohe Beamte und Neureiche konnten sich den Luxus leisten,  in seinem kleinen und exklusiven Restaurant ein erstklassiges 20-Gänge Menü der kantonesischen Küche zu verköstigen. Viele seiner meist zahlenden männlichen Gäste kamen in Begleitung junger Frauen, oder mit Berühmtheiten der kantonesischen Künstlerszene, die wenigsten kamen mit ihren Ehepartnern. 

Nachdem die Ware ausgewählt und ein Rabatt verhandelt wurde, fuhr Zuofen zurück in sein Restaurant. Am Wochenende sollte der politische Bürgermeister der Stadt mit einem Gefolge von 6 hohen Beamten kommen, alle mit der respektiven „Damenbegleitung“. Sowohl Séparée als auch Festmahl mussten tadellos sein, denn Zuofen wollte den politischen Bürgermeister um einen Gefallen bitten: Sein Sohn „Charlie“, ein junger und ehrgeiziger Mann, wollte Medizin an der John Hopkins Universität in den Vereinigten Staaten studieren. Dafür benötigte er ein Stipendium, um die furchtbar hohen Gebühren zu decken.

Das Bankett war ein vollkommener Erfolg. Der Bürgermeister lobte den chuān shān jiǎ und insbesondere den yan wo. Zuofen hatte sich besondere Mühe in der Zubereitung gegeben: Ausweiden, Entfedern und Reinigen der Tiere, die mit ihrem eigenem und dem Kot anderer Tiere beschmutzt waren; die mühsame Vorbereitung der Schwalbennester … praktisch alles. Charlie musste einfach das Stipendium erhalten! Und obwohl Zuofen eine hohe Müdigkeit verspürte und unter einem trockenen Husten litt, konnte er alles einwandfrei fertigstellen. Der Bürgermeister versprach nachzusehen, was er für seinen einzigen Sohn, das Wichtigste in Zuofens Leben, tun konnte.

Am Sonntag erwachte Zuofen mit starkem Husten und Fieber, sodass seine Frau ihn in das nächste Krankenhaus einlieferte. In der Notaufnahme diagnostizierte man eine Lungenentzündung. Zuofen erhielt Antibiotika, aber sein Zustand verschlechterte sich zusehends, obwohl der behandelnde Oberarzt Dr. Wong die Dosierung der Medikamente erhöht hatte. Vermutlich handelte es sich nicht um eine bakterielle Lungenentzündung, sondern um einen Virus, dachte Dr. Wong. 

Dr. Liu Jianlung, Chefarzt der Pneumologie am Zhongshan Memorial Krankenhaus in der kantonesischen Provinzhauptstadt Guangzhao, war eine Eminenz seines Fachs. Sicherlich wusste Dr. Liu, was zu tun war. Zumindest in Shenzhen konnte man für den Patienten nichts mehr tun, sodass der Patient sofort in die kantonesische Hauptstadt verlegt werden sollte. Seine Temperatur lag zwischenzeitlich bei 41 Grad Celsius und der Patient war unterdessen in eine Art Delirium verfallen. Es galt keine Zeit mehr zu verlieren!

Als Zuofen am nächsten Tag im Zhongshan Memorial Krankenhaus eingeliefert wurde, war er praktisch in Agonie. Der Chefarzt Dr. Liu erwartete den Patienten bereits mitsamt seinem ganzen Pflegeteam. Die Symptome der Lungenentzündung waren total atypisch, die Notwendigkeit einer permanenten Sauerstoffzufuhr mittels Intubation war sofort nach Patienteneinlieferung notwendig gewesen, andererseits hätte sofortige Erstickung gedroht. Sie würden ein intravenöses Medikament an dem Patienten ausprobieren, welches in den 1990er Jahre in den Vereinigten Staaten von Amerika gegen Lungeninfektionen während der Erforschung des Humanen Immun-Defizienz-Virus entwickelt worden war. Das retrovirale Medikament war neu in China und sehr teuer. 

Dr. Liu und sein gesamtes Team waren sehr bemüht. Aber trotz aller Intensivpflege und der modernen Medikamente, die dem Patienten verabreicht wurden, verstarb Zhou Zuofen am nächsten Tag. Er war in einen Komazustand geraten. Das Letzte, woran Zuofen noch dachte, bevor er sein Bewusstsein komplett verlor, war, ob der Bürgermeister wohl sein Wort halten und seinen Sohn Charlie zum Medizinstudium in die Vereinigten Staaten schicke würde.

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Als Dr. Liu Jianlung mit seiner Frau zwei Wochen später in Hong Kong ankam, litt er unter starken Kopfschmerzen, Husten und Müdigkeit. Obwohl Hong Kong nur 130 km von Guangzhao entfernt lag, hatte seine Frau ihm empfohlen, die Reise besser abzusagen und sich auszuruhen. Aber Dr. Liu hatte auf der Reise bestanden, seine bildhübsche und talentierte Nichte Liu Mei Feng würde in einigen Tagen einen jungen Magnaten heiraten. Es war die Sensation der Presse in Hong Kong. Dieses Ereignis, an dem die gesamte lokale Prominenz teilnehmen würde, wollte er sich auf keinen Fall entgehen lassen!

Obwohl die Feier im exklusiven Hotel Peninsula stattfinden würde, hatte seine Frau ein Zimmer im Hotel Metropole gebucht – weniger exklusiv zwar, aber dafür dem Gehalt ihres Ehemannes angepasster. Da andere Verwandte und Freunde ebenso im Metropole übernachten wollten, hatte sich ihr Ehemann damit einverstanden erklärt.

Es besorgte ihn, dass seit zwei Wochen einige Krankenschwestern in seiner Abteilung am Memorial Krankenhaus plötzlich erkrankt waren. Dazu auch einige Ärzte anderer Abteilungen und viele Patienten. Manche von ihnen waren sogar nach kurzer Zeit verstorben und keiner hatte verstanden, warum. Alle hatten die Symptome einer Lungenentzündung gezeigt, die Anamnese war immer der Gleiche gewesen: starke Kopfschmerzen, trockener Husten, gefolgt von Fieber. Bevor er nach Hong Kong aufgebrochen war, hatte er einen Bericht an das lokale Gesundheitsministerium aufgesetzt und verschickt. Jetzt litt er selber an den gleichen Symptomen: Kopfschmerzen, trockener Husten und Erschöpfung. Er hatte mehr als nur einmal den Verdacht geäußert, dass all diese Ereignisse in Zusammenhang mit dem eingelieferten Patienten aus Shenzhen vor zwei Wochen stehen könnten. War dieser arme Teufel der „Patient Null“, der Super-Überträger einer bisher unbekannten Krankheit gewesen? Aber das Verlangen, an der Hochzeit seiner Nichte teilzunehmen und einer der herausragenden geladenen Gäste in Hong Kong zu sein, hatte seine Vernunft getrübt. Sicherlich würde alles gut gehen! Was Dr. Liu in diesem Moment nicht wusste, war, dass er seinen Arbeitsplatz in Guangzhao nie mehr antreten, dass er nicht einmal mehr Hong Kong verlassen würde, dass er an einem hochinfektiösen und tödlichen Virus in 7 Tagen sterben würde, nicht aber ohne vorher hunderte von Menschen zu infizieren, von denen viele genauso so dramatisch sterben würden wie er im Kwong Wah Krankenhaus. Seine Frau, sein Schwager und leider auch seine bildhübsche Nichte Mei Feng – die Braut, die den jungen Magnaten zwei Wochen nach einer glanzvollen Hochzeitfeier im Hotel Peninsula zum Witwer machten sollte – waren ebenso unter den Hunderten von Toten. Dr. Liu war der zweite Super-Überträger des fünften bisher entdeckten Corona-Virus, aber des ersten, der das „Schwere Akute Respiratorische Syndrom“ verursachte. Dieses  sollte später auf der ganzen Welt als SARS bekannt werden. 

Die chinesische Regierung hatte die Berichte von Dr. Liu zensiert. Es war ein ganzer Monat später, als sie der Weltgesundheitsorganisation WHO endlich Bescheid gab – zu spät, denn zu dem Zeitpunkt hatte das Virus China bereits über Hong Kong verlassen und seinen Eroberungszug in die ganze Welt begonnen.

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Chuan Feng hatte insistiert: „Bàba, Du musst zur Hochzeit von Mei Feng nach Hong Kong kommen. Du weißt, dass sie meine Lieblingscousine ist und Du hast doch immer ihre Schönheit und die Grazie bewundert, mit der sie in der Pekingoper auftritt. Jim ist mir auch unsympathisch, aber Mei Feng wird ihn sicher nicht wegen seiner Arroganz und seinen Millionen heiraten wollen, die er mit seinem Speditionsgeschäft verdient. Sicherlich hat er auch andere Qualitäten, vielleicht kannst Du ja etwas davon mit Deiner Kamera erfassen? Außerdem kommen alle Verwandte aus dem Norden Chinas, die siehst Du auch nicht so häufig. Sie werden sich freuen Dich zu sehen, es wird wie früher sein, wie ein großes Familienfest zwischen Orient und Okzident.“

Liu Mei Feng und mein chinesischer Sohn Liu Chuan Feng waren Cousins. Während Chuan Feng nicht viel von der künstlerischen Ader seiner mütterlichen Mandschu Vorfahren geerbt hatte, so war Mei Mei, wie wir sie liebevoll im familiären Kreise nannten, bereits in jungen Jahren eine Künstlerin gewesen. Genau wie Chuan Feng’s Mutter verfügte sie über einen Edelmut und eine Schönheit, wie sie nur bei Frauen aus der alten Mandschurei zu finden war.

Die Großmutter von Chuan Feng war eine berühmte Sängerin der chinesischen Oper im von Japan errichteten Marionetten-Kaiserreich Mandschukuo gewesen. Während der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts hatte sie sogar Pu Yi, den letzten chinesischen Kaiser, während einer ihrer vielen Aufführungen in Mandju Gurun kennen gelernt, dem heutigen Changchun. Der Zweite Weltkrieg endete mit der Auflösung der japanischen Besatzung in Mandschukuo. Unter der neuen Sowjetischen Besatzung flüchtete Chuan Fengs Großmutter dann nach Chong Qing, der Hauptstadt der Nationalistischen Partei, des Kuomintang. Hier lernte sie bei ihren Auftritten den Parteiführer General Chiang Kai-Shek kennen. Das Glück sollte nicht lange anhalten: aus dem Bürgerkrieg zwischen dem Kuomintang und der Kommunistischen Partei sollten zur Überraschung vieler die Kommunisten als Sieger hervorgehen und Chiang Kai-Shek flüchtete mit seinen Gefolgsleuten auf die Insel Formosa (heute Taiwan). Auch die Großmutter musste erneut fliehen – sie entschied sich dieses Mal für Peking, wo sie ihre weiblichen „dan“ Rollen an der bekannten Pekingoper perfektionieren sollte. Einmal in der neuen Hauptstadt Peking niedergelassen, wurde ihr neuer Bewunderer niemand weniger als der neue Führer der Volksrepublik China, der Vorsitzende Mao Zedong.

In der Familie von Chuan Feng hatte es immer viele Gerüchte und Geschichten um Großmutter Yu und ihre berühmten Bewunderer gegeben, aber Beweise gab es keine, denn die Großmutter war immer sehr diskret gewesen. Als sie verstarb, wurden viele Briefe in einem antiken Rundschloss-Schrank aus Ulmenholz gefunden worden. Ich hatte diesen Schrank immer gemocht. Großmutter Yu hatte es gewusst und als sie verstarb, vermachte sie ihn mir … zum Staunen der Familie mit dem gesamten Inhalt, unter anderem auch den Briefen, die sie ein Leben lang so diskret unter Verschluss gehalten hatte.

Zu Beginn der 60er Jahre stand Liu Yu auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, als sie plötzlich – ohne irgendeine Erklärung – die Oper verließ, um sich ausschließlich der Erziehung ihrer Töchter zu widmen. Diese hatte sie in der Vergangenheit der Supervision ihrer eigenen Gouvernante überlassen. Niemand hatte verstanden, warum Liu Yu solch eine unerwartete Entscheidung getroffen hatte. Bis …? Bis plötzlich die Kulturevolution ausbrach, durch ganz China wie ein Orkan fegte und im ganzen Land nichts als Zerstörung und viele Tote hinterließ, vor allem unter berühmten Künstlern und Schriftstellern. Ob die Großmutter über Hellseherei verfügte hatte oder ob es sich doch um einen geheimen Wink eines intimen Freundes, eines höheren Beamten der kommunistischen Partei handelte, kam nie zur Sprache. Vielleicht würde ja dieser Teil ihres Lebens in einem der vielen Briefe versteckt sein, die in dem alten Schrank aufbewahrt worden waren?

Die Großmutter sollte ihre Leidenschaft nie vergessen, noch sie aufgeben. Mit dem Tode des Vorsitzenden Maos und dem damit verbundenen Wandel in Politik, Wirtschaft und somit in der gesamten chinesischen Gesellschaft entschied die Großmutter, ihre alte Berufung wieder zu beleben. Dieses Mal aber bei ihren beiden Töchtern, und insbesondere durch die Ausbildung ihrer Enkelin Liu Mei Feng in traditioneller chinesischer Kunst der Musik, Gesang und Tanz … all das war in der Volkrepublik durch die Kulturrevolution zu dem Zeitpunkt praktisch ausgestorben gewesen.

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Einige Familienangehörige waren im Hotel Metropole untergekommen. Unter ihnen befand sich auch der berühmte Dr. Liu Jianlun, ein entfernter Onkel von Chuan Feng.

Chuan Feng, andere Mitglieder der Familie Liu und ich hatten es vorgezogen, im Peninsula zu übernachten. Das Fünf-Sterne-Hotel war bereits 1928 emblematisch direkt am Viktoria Hafen in Tsim Sha Tsui erbaut worden. Hier sollte die Feier von Mei Feng und ihrem jungen Millionärsverlobten Son Yin – alle nannten sie ihn „Jim“, nach seinem westlichen Namen – stattfinden.

Jim machte sein Vermögen mit dem Transport von allerlei Waren zwischen Ost und West, insbesondere mit dem Transport von Containern aus Hong Kong und seit einigen Jahren auch aus Yangshan, dem größten Containerhafen Asiens ein paar Kilometer südlich von Shanghai. Aus Hong Kong und Yangshan steuerte Jim Tausende von Containern in andere Länder Asiens. Durch seine Kontakte zur Zentralregierung nach Peking und somit zur staatlichen Reederei COSCO gingen die Transporte mittlerweile in die nordamerikanischen und europäischen Häfen. Während seine Landsleute immer mehr Artikel für die Textil- und Elektronikbranche für den Weltmarkt produzierten, so verlangte der chinesische Konsument gleichzeitig immer mehr Produkte für den eigenen Bedarf, von Soja bis zu den Produkten, die bis dahin dem normalen Konsumenten in China vollkommen unbekannt waren. Unabhängig davon, ob es sich um australisches Rindfleisch, südamerikanischen Kaffee, belgische Schokolade, Luxusprodukte oder westliche Marken handelte, um Mercedes Benz Automobile, Panerai Uhren, Handtaschen von Bottega Beneta, Spanischen Eichelschinken, Belugakaviar, Champagner oder Bordeaux Weine… Jims Unternehmen hatte stets den richtigen Transport für jedes Konsum- oder Industriegut von und nach China bzw. Hong Kong.

Er hatte Mei Feng auf einer Feier von pekinesischen Freunden in Shanghai kennengelernt. Obgleich es ihre Schönheit war, die alle anderen jungen Frauen auf der Feier im Schatten stehen ließ, so hatte er sich doch am meisten durch ihren Charakter angezogen gefühlt. Mei Feng war eine bezaubernde Frau, und gleichzeitig extrem selbständig und professionell. Sie schien überhaupt nicht am Portemonnaie der jungen Unternehmer auf dem Fest interessiert zu sein, sondern eher an deren Interessen oder Dingen, die über Arbeit oder Shoppen europäischer Luxusartikel hinausgingen. Jim kam von einer wohlsituierten Familie. Er war in Hong Kong geboren und hat seine Ausbildung an den besten Schulen und Hochschulen in England und den USA genossen. Er kannte den Luxus seit seiner Kindheit. Die Tatsache, dass seine Familie zur Aristokratie von Kowloon gehörte (eine Familie, die der Sage nach vom letzten kantonesischen Kaiser Song Bing abstammen sollte), hatte ihm gleichwohl in keiner Weise ein ausschweifendes Leben erlaubt, so wie es bei den Neureichen üblich war. Seine Familie hatte stets den Wert einer guten Ausbildung vermittelt – das Beste jesuitischer Schulen und angelsächsischer Universitäten, gemischt mit konfuzianischen Weisheiten und Geschäftsstrategien, die uns heute noch in Person des großen Generals und Philosophen Sun Tsu überliefert sind. Das Geld in der Familie Song musste sich jeder selber verdienen.

Für Jim war Mei Feng ganz anders als alle anderen jungen Frauen, die er bisher, insbesondere in Shanghai, kennengelernt hatte. Diese waren zwar die am besten ausgebildeten Chinesinnen, kosmopolitisch und westlich orientiert, aber sie hatten auch einen Makel, der nicht nur ein Gerücht war: Shanghai Girls waren bekannter weise vornehmlich am Geld ihrer Ehepartner interessiert, allen anderen Qualitäten vorweg. Mei Feng war anders, sie wollte alles von Jim erfahren, warum er im Ausland studiert hatte und warum er nicht eine Führungsposition bei einem der vielen Unternehmen seines Vaters angenommen hatte. Warum er Philosophie vor Betriebswirtschaft studiert hatte, wie das Leben im Westen war, wie Männer und Frauen in Europa und Amerika waren, deren Kunst, Kultur, Musik, Literatur, Religion … und insbesondere das Essen, das für alle Chinesen einen zentralen Stellenwert hatte. Jim liebte das Traditionelle an Mei Feng, sie schien von einer anderen Zeit, von der traditionellen Epoche der chinesischen Kaiser zu kommen. Andererseits, wenn Mei Feng nicht an der Chinesischen Oper in Peking auftrat, schien sie wie jede gutsituierte junge Frau zu sein, die das Geld von Papa ausgab, oder das eines reichen Ehemannes oder eines Liebhabers, vermutlich das eines korrupten Beamten mit viel Geld, um sich die letzten Modelle von Balenciaga oder Tom Ford zu kaufen, ihre Lieblingsmarken. „Ich mag Verkleidung“, sagte sie, in Anspielung an ihre Verkleidung des „dan“ Genre an der Pekingoper und die neuen Modelle westlicher Modedesigner, die tatsächlich häufig wie Verkleidungen aussahen. Aber der wirklich große Unterschied  war, dass Mei Feng überhaupt keinen Gönner hatte. Ihr Vater war sehr früh verstorben, sie hatte wohl viele Anwärter, aber keinen festen Freund und keinen Beamten, noch weniger einen verheirateten Liebhaber gehabt. Ihre Großmutter Liu Yu hatte sie zwar in der Kunst der Verführung, aber ebenso in der Weisheit unterrichtet, nicht dem Geld irgendeines Prätendenten zu verfallen sondern immer für sich selbst zu sorgen. 

Sie hatten sich ineinander verliebt und die Eile, in der sie sich zu heiraten entschieden, hat alle verwundert, die sie kannten. Sie hatten Hong Kong für die Hochzeitsfeierlichkeiten ausgewählt und beschlossen, enge Freunde und Verwandte einzuladen. Es war zu erwarten, dass Jims Eltern auch die Hong Kong‘er Aristokratie einladen würden. Das Event sollte dieSensation der Presse in Peking und Hong Kong für die kommenden Wochen werden.

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Unsere Familientragödie in Hong Kong während jenem Februar im Jahr 2003 und dessen Auswirkung auf die ganze Welt waren in meinen Erinnerungen noch immer sehr präsent. Nicht nur war der Onkel von Chuan Feng kurz vor der Hochzeitsfeier ernsthaft krank geworden, sondern es hatten auch die Verwandten, die mit Dr. Liu Jianlun im Hotel Metropole übernachteten, Symptome einer Grippe gezeigt. Während einer Vorfeier im engeren Familienkreis im Hotel Peninsula nießten und spuckten sie überall hin. Während der Hochzeitsfeier ein paar Tage später fehlten dann auch überraschenderweise Dr. Liu Jianlun und seine Frau, beide waren mittlerweile wegen einer akuten Lungenentzündung ins Kwong Wah Krankenhaus eingeliefert worden. Die anderen Verwandten aus dem Metropole Hotel, die überwiegend aus dem Süden Chinas kamen, waren jetzt alle sichtbar erkrankt, hätten sich aber keinesfalls die Hochzeitsfeier zwischen Mei Feng und Jim entgehen lassen wollen. Zu unserem Glück lag unser Tisch am anderen Ende des Salons und da Dr. Liu und seine Frau nicht mehr anwesend waren, hatten wir auch keinen triftigen Grund gehabt, mit der südchinesischen Verwandtschaft Kontakt aufzunehmen. Unser Tisch war bei den Verwandten vom Norden neben dem Tisch der Braut und des Bräutigams. Mei Feng sah phantastisch aus, wie es zu erwarten war. Wir alle bemerkten aber, dass sie erschöpft wirkte, ganz anders als sonst mit ihrem so lebhaften und einnehmenden Charakter. Sie meinte den ganzen Tag bereits unter starken Kopfschmerzen zu leiden, die weder durch Aspirin noch durch Akupunktur am Peninsula SPA weggegangen waren. 

Die Hochzeit war ein ganzes Ereignis gewesen, die gesamte feine Hong Kong Gesellschaft hatte sich ein Stelldichein gegeben. Ich hatte mich mit meiner alten Kamera auf das Fotografieren konzentriert, eine Leica M, die mein Vater mir in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts geschenkt hatte. Die Kamera war eine dieser Innovationen gewesen, die eine gesamte Industrie und ihre Berufe verändern würde. Die Fotokameras im späten XIX Jahrhundert waren Studiokameras gewesen, bis das nordamerikanische Unternehmen Eastman Kodak eine kostengünstige fotografische Kamera für die Massen entwickelte und erfolgreich auf den Markt brachte. Die Brownie,  eine Pappschachtel, würde über die nächsten 80 Jahre in unterschiedlichen Größen mit dem einzigen Ziel vermarktet werden, den „Film in der Pappschachtel“ zu verkaufen. Der Film hatte ein Fotoformat von 6 x 9 mm, damit konnte man ein vernünftiges Foto in Postkartenformat drucken, mehr aber auch nicht. Für Vergrößerungen höherer Qualität benötigte man weiterhin Fotoapparate in großem Format oder Apparate, die schwer zu transportieren waren. Als das deutsche Unternehmen Leitz eine Mini-Filmkamera im 35 mm Format für die Filmindustrie entwickelte, merkten sie erst  was dieser superkompakte Apparat wirklich konnte … nämlich hervorragende Fotos aufzunehmen. Der Unterschied zwischen einer Kodak und einer Leitz Kamera war wie der Unterschied zwischen einem Ford[HS2] -T und einem von Ferdinand Porsche entwickelten Mercedes Benz Kompressor. Die Leica war geboren und somit die Fotografie, so wie wir sie heute kennen.

Das Kameramodell, das mein Vater mir geschenkt hatte, wies im Prinzip eine ähnliche Konstruktion wie die Ur-Leica auf, mit leichten Verbesserungen in der Bedienung, der Linsen und bei den Materialien. Der Vorteil meiner Leica während der Hochzeit lag in ihrer kompakten Form, im Zweifel mit einer Hand bedienbar. Mit meinem 35 mm 2.0 Summicron Objektiv konnte ich praktisch hochauflösende Aufnahmen selbst bei schwierigen Lichtverhältnissen ohne Blitz machen. Damit war ich für alle Gäste und insbesondere für das Brautpaar unauffällig, wenn nicht sogar unsichtbar. Obwohl viele professionelle Fotografen und Journalisten hunderte posierende Blitzfotos der awesenden Hong Kong Aristokratie und insbesondere von Mei Feng und Jim aufnahmen, so war es doch mit meiner alte Leica mit der ich all die intimen Momente diskret erfassen konnte, ohne zu wissen, dass das, was ich in dem Moment erfasste, die letzten glücklichen Momente von vielen und die letzten lebenden Momente von Dutzenden von Menschen waren … so wie das einzigartige Lächeln und der Blick, den Mei Feng ihrem künftigen Ehemann in einem Moment der scheinbaren Intimität schenkte.

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„Was sagst Du da, Chuan Feng? Sag mir bloß nicht, dass eine neue SARS Pandemie ausgebrochen ist?“ platze es aus mir mit großer Besorgnis heraus.

„Was im Moment in Wuhan passiert, bàba, ist sehr ähnlich. Erinnerst Du Dich an meinen Freund Toni Cheng, den Du vor zwei Jahren auf meiner Hochzeit kennen gelernt hast und mit dem Du Dich lange über analoge versus digitale Fotografie unterhalten hast? Er arbeitet als Chef eines Analyselabors in Wuhan. Anscheinend hat es dort eine Reihe an Grippefällen gegeben, die sich zu akuten Lungenentzündungen, vor allem bei älteren Patienten, weiterentwickelt haben. Da Toni unsere Familiengeschichte aus jenem Frühling im Jahr 2003 kennt, besorgt es ihn am meisten, dass sich auch Krankenhauspersonal mit den gleichen Symptomen in sehr kurzer Zeit dynamisch angesteckt hat. Im Labor haben alle sofort an den bekannten SARS Virus von 2003 aus Südchina gedacht. Es wurde auch sofort ein Corona Virus erkannt, aber es handelt sich nicht um den gleichen Virus wie der aus 2003, weshalb mögliche Impfungen unwirksam sind. Man konnte bisher das Genom noch nicht reproduzieren, aber zwischenzeitlich werden immer mehr und mehr Patienten in den Krankenhäusern in Wuhan eingeliefert. Aufgrund der Anzahl neuer Patienten befürchtet man mittlerweile, dass es sich um eine Pandemie handeln könnte. Es herrscht große Angst, die Behörden haben uns verboten, mit irgend jemanden darüber zu sprechen. Man hat sogar Li Wenliang, der Arzt, der uns darüber informiert hat, bedroht und zum Stillschweigen gebracht.“

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Die Fotos, die ich auf Mei Fengs Hochzeit und in den kommenden Tagen aufnehmen konnte, sprachen für sich selbst. Unsere Familiengruppe, die Hochzeit, diejenigen, die mit uns Kontakt hatten, die Eindrücke im Krankenhaus, später die Beerdigungen von Dr. Liu Jianlun und seiner Frau und insbesondere … die Trauerfeier von Mei Feng kurz danach. Alle diese Fotos erzählten von einer Tragödie von blitzartiger Geschwindigkeit, die keine Zeit erlaubte darüber nachzudenken, was gerade geschehen war oder noch geschehen konnte.

Es war gerade in diesen Tagen, als die chinesische Regierung sich entschloss, der Weltgesundheitsorganisation Bescheid zu geben, dass in Guangdong, einer Provinz in Südchina, ein neuartiger hochinfektiöser Virus entdeckt worden sei und sich rapide ausbreitete. Es waren bereits mehrere hundert Menschen in Guangdong an den Folgen verstorben und kein Mensch wusste, wie viele noch folgen würden. Meine Fotos hatten die Tragödie von Anfang bis zum Ende erfasst. Sogar die Associated Press wollte sie für ihre Verbreitung haben, aber aus Rücksicht auf die Familie und insbesondere in Gedenken an Mei Feng und ihren verwitweten Ehemann hatten Chuan Feng und ich entschieden, die Fotos innerhalb der Familie privat aufzuheben, genau so wie es Großmutter Liu Yu mit jenen Briefen getan hatte, die sie sehr diskret aufbewahrt, mit niemanden geteilt, geschweige denn je veröffentlicht hatte. Jim, der junge Magnat und nach gerade einmal 2 Wochen bereits Witwer, würde nicht noch einmal heiraten. Nur in seinem großräumigen und luxuriösen Wohnzimmer seines weiträumigen Luxusapartments auf dem höchstem Punkt von Victoria Peak würde eine 2 mal 3 Meter Schwarzweiß- Vergrößerung hängen. Es war eine meiner Aufnahmen aus jener Hochzeitsfeier im Hotel Peninsula. Sie zeigte Mei Feng mit leicht nach hinten geneigtem Kopf, Jim war im Begriff sie zu küssen, ihre Gesichter waren kaum 10 cm voneinander entfernt, ihre Augen tief in den jeweils anderen versunken, ihre Gesichter strahlend, während der Hintergrund praktisch im Dunkeln lag, so als ob sie alleine wären und wir nicht alle in diesen kurzen aber unvergesslichen Traummomenten dabei gewesen wären, und die Jim sein Leben lang nicht vergessen würde. Die Aufnahme in der Peak Road 75 würde das einzige Foto und die einzige Vergrößerung meiner Sammlung jener Zeit sein, die meine Kollektion nach außen verlassen würde. Es war mein Hochzeitsgeschenk und nur ein kleiner Tropfen des Trostes für Jim, mit dem ich bis heute eine sehr enge Beziehung seit jenen grauen Wochen in Hong Kong halte.

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Sollte eine sich derzeit eine neue Pandemie verbreiten, so möchte ich nicht wissen was auf uns alles zukommen wird. Meine Vorahnung ahnte schlimmes.

ENDE DES VORWORTES


(Fortsetzung folgt. Sollten Sie diese Einleitung interessant gefunden haben, dann verpassen Sie die nächsten Kapitel nicht. Noch besser wäre es aber, wenn Sie Ihre Erfahrungen während der Corona-Virus Pandemie teilen möchten, als literarische Kurzgeschichte in der Sprache Ihrer Wahl. Ich würde mich freuen Ihre Geschichte hier zu posten, mit oder ohne Fotografie.

Published by FriedrichVonPawlowska

Global citizen interested in photography as well as in creative modern business and near biographic essay writing preferably in English, German and Spanish

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